Sozialer Zusammenhalt
Sozialer Zusammenhalt existiert dort, wo Menschen trotz Unterschiedlichkeiten ein gemeinsames Leben gestalten und kann dort brüchig werden, wo Ungleichheit, Ausgrenzung oder Polarisierung wachsen. Dabei muss er immer wieder neu ausgehandelt werden: zwischen Generationen, Lebensrealitäten und Nachbarschaften.
Im Rahmen der Grand Challenge „Sozialer Zusammenhalt“ der Berlin University Alliance hat sich Prof. Dr. Martina Löw mit solchen Aushandlungsprozessen beschäftigt. Sie leitet den Forschungsverbund „Re-Figuration von Räumen“ an der Technischen Universität Berlin (TUB) und untersucht, wie wir Räume gestalten und gemeinsam nutzen, vom Lieblingsplatz im Kiez bis zu Konflikten um die Gestaltung von Städten. Ein besonderer Fokus liegt dabei auf der Frage, wie Vielfalt unser Zusammenleben prägt und welche Rolle queere Subkulturen spielen. Mit uns richtet sie den Blick Beyond Now: Was braucht Berlin, damit sozialer Zusammenhalt auch morgen noch trägt?
Im Rahmen der Grand Challenge „Sozialer Zusammenhalt“ der Berlin University Alliance hat sich Prof. Dr. Martina Löw mit solchen Aushandlungsprozessen beschäftigt. Sie leitet den Forschungsverbund „Re-Figuration von Räumen“ an der Technischen Universität Berlin (TUB) und untersucht, wie wir Räume gestalten und gemeinsam nutzen, vom Lieblingsplatz im Kiez bis zu Konflikten um die Gestaltung von Städten. Ein besonderer Fokus liegt dabei auf der Frage, wie Vielfalt unser Zusammenleben prägt und welche Rolle queere Subkulturen spielen. Mit uns richtet sie den Blick Beyond Now: Was braucht Berlin, damit sozialer Zusammenhalt auch morgen noch trägt?
EIN GESPRÄCH MIT MARTINA LÖW
Das Motto der Berlin Science Week 2025 ist Beyond Now, also über das Jetzt hinausdenken. Wenn Sie auf aktuelle Entwicklungen schauen – bspw. Migration, Digitalisierung oder Klimawandel – welches Themenfeld wird besonders stark beeinflussen, wie wir in Zukunft zusammenleben werden?
Martina Löw: Digitalisierung. Durch das soziale Phänomen der Digitalisierung wandelt sich die Welt grundlegend. Fast alle Branchen restrukturieren sich. Die Banken weisen heute 90% digitalisierten Kundenkontakt auf. Im Einzelhandel finden 80% der Käufe online statt. Printmedien werden immer seltener.
Bei aller Differenz im Detail teilen wir mit allen Menschen in der Welt das Schicksal der Notwendigkeit zur Neuorientierung. Unser Zusammenleben wird relationaler und abhängiger. Wir messen uns bzw. werden gemessen in Rankings, Ratings oder Mappings. Mit dem Smartphone in der Tasche oder unterwegs im smartifizierten Auto oder in den Wohnwelten der digitalisierten Apartments bildet sich eine neue Form der alltäglichen Überwachung heraus.
Jede nur denkbare Handlung wird versucht zu erfassen, zu anderen Handlungen relational zu platzieren und schließlich zu vermarkten. Auch staatliche Kontrolle über Digitalisierung nimmt weltweit zu. Z. B. verändern sich die Grenzregime in einer Weise, dass nicht nur mehr Grenzen fortifiziert werden, sondern die Orte der Grenzsicherung auch heterogener und fluider werden.
Bei aller Differenz im Detail teilen wir mit allen Menschen in der Welt das Schicksal der Notwendigkeit zur Neuorientierung. Unser Zusammenleben wird relationaler und abhängiger. Wir messen uns bzw. werden gemessen in Rankings, Ratings oder Mappings. Mit dem Smartphone in der Tasche oder unterwegs im smartifizierten Auto oder in den Wohnwelten der digitalisierten Apartments bildet sich eine neue Form der alltäglichen Überwachung heraus.
Jede nur denkbare Handlung wird versucht zu erfassen, zu anderen Handlungen relational zu platzieren und schließlich zu vermarkten. Auch staatliche Kontrolle über Digitalisierung nimmt weltweit zu. Z. B. verändern sich die Grenzregime in einer Weise, dass nicht nur mehr Grenzen fortifiziert werden, sondern die Orte der Grenzsicherung auch heterogener und fluider werden.
Dies bezieht sich u.a. auf Kontrollen an Flughäfen oder digitale Erfassung auf offener See, mobile Grenzkontrollen und die Speicherung und Weitergabe von Daten über migrierende Personen. Hoffnungsfroh macht hier mich nur, dass die gemeinsame Herausforderung und das Wissen um die Bezogenheit aufeinander, neue Ressourcen für sozialen Zusammenhalt bieten kann.
Die Berlin University Alliance spricht in diesem Zusammenhang von großen gesellschaftlichen Transformationsprozessen und Herausforderungen, den Grand Challenges. Warum ist der gesellschaftliche Zusammenhang eine „Grand Challenge“, also eine entscheidende Zukunftsfrage? Was macht diese großen Transformationsthemen, auf die die BUA fokussiert, komplexer als andere Forschungsfragen?
Martina Löw: Die Einsicht, dass sozialer Zusammenhalt eine Grand Challenge für Gesellschaften ist, basierte in der BUA zunächst auf einer ganz konkreten Erfahrung. Wir mussten 2015 in Berlin gemeinsam erfahren, dass weder die Stadt noch die Gesellschaft über Strukturen verfügten, um mit der hohen Anzahl ankommender Geflüchteter angemessen umzugehen. Die Wissenschaft drang mit entsprechenden Forschungsansätzen oder –ergebnissen nicht an die Öffentlichkeit durch, obwohl die entsprechende Expertise in den verschiedenen Fachgebieten durchaus vertreten gewesen wäre.
Im Rahmen der Grand Challenges bringen wir die Kompetenzen der verschiedenen Berliner Institutionen und Disziplinen schnell und unbürokratisch zusammen, um auf große gesellschaftliche Herausforderungen adäquat und schneller reagieren zu können. Mit dem Forschungsschwerpunkt „Social Cohesion“ gehen wir von der Prämisse aus, dass es in modernen Gesellschaften nicht möglich ist, sich auf gemeinsame Werte und Normen zu berufen. Wir müssen uns stattdessen um Strategien bemühen, das Unterschiedliche zu zulassen und vor allem auch in den Dialog zu bringen. Das macht es so kompliziert. Sozialer Zusammenhalt ist ein Prozess, der den Umbau der Gesellschaft gerade auch durch Digitalisierung und Klimawandel begleitet.
Sie leiten den Forschungsverbund ›Re-Figuration von Räumen‹, der untersucht, wie Räume entstehen, genutzt und manchmal auch umkämpft werden. Wie kann das Konzept von Räumen dabei helfen, das Thema gesellschaftlicher Zusammenhalt zu verstehen?
Martina Löw: Viele Menschen streiten heutzutage über Themen, ohne dass sie verstehen, dass es latent um räumliche Konzepte geht. Da kämpft der eine für Automobilität und der andere für verkehrsberuhigte Innenstädte. Beide verstehen nicht, dass hier die Figur des Bahnenraums — Infrastrukturen, die allein der Durchquerung dienen, wie zum Beispiel Straßen, Kanäle oder Flugrouten — mit der des Ortes konkurriert.
Noch prekärer ist der Konflikt über offene Migrationsrouten versus geschlossene Grenzen von Staaten. Hier glauben die einen an Freiheit und Sicherheit durch Netzwerk- und Bahnenräume, während die anderen sich Zukunft nur in Territorialräumen vorstellen können.
Unsere Welt verändert sich derzeit in ihren Räumen: Unsere Orientierung basiert nicht mehr auf Landkarten, sondern auf Navigationssystemen. Unsere Wirtschaft ist keine Volkswirtschaft mehr, sondern globalisiert. Unsere Tagebücher sind nun virtuelle Stecknadeln in Social Media. Wenn wir nicht über Räume sprechen, verstehen wir unsere Konflikte nicht. Und gleichzeitig: Wenn wir über Räume sprechen, können wir anders über Konflikte reden. Wir verlagern den Gegenstand des Gesprächs weg von den Konflikten hin zu den Strukturen, in denen die Konflikte sich ereignen.
Noch prekärer ist der Konflikt über offene Migrationsrouten versus geschlossene Grenzen von Staaten. Hier glauben die einen an Freiheit und Sicherheit durch Netzwerk- und Bahnenräume, während die anderen sich Zukunft nur in Territorialräumen vorstellen können.
Unsere Welt verändert sich derzeit in ihren Räumen: Unsere Orientierung basiert nicht mehr auf Landkarten, sondern auf Navigationssystemen. Unsere Wirtschaft ist keine Volkswirtschaft mehr, sondern globalisiert. Unsere Tagebücher sind nun virtuelle Stecknadeln in Social Media. Wenn wir nicht über Räume sprechen, verstehen wir unsere Konflikte nicht. Und gleichzeitig: Wenn wir über Räume sprechen, können wir anders über Konflikte reden. Wir verlagern den Gegenstand des Gesprächs weg von den Konflikten hin zu den Strukturen, in denen die Konflikte sich ereignen.
Vor welchen Herausforderungen steht eine Stadt wie Berlin beim Thema gesellschaftlicher Zusammenhalt? Wo erleben Sie Orte, die Menschen verbinden, und wo entstehen Spannungen?
Martina Löw: Waren Sie schon mal in Ergün’s Fischbude? Das ist ein erstaunlicher Ort und doch gibt es in Berlin viele dieser erstaunlichen Orte. Es ist als hätte man sich vor Ort darauf geeinigt, die Gemeinsamkeit und nicht die Unterschiede zu leben. Das betrifft an diesem Ort vor allem die Beziehungen zwischen deutsch-türkischen und deutsch-deutschen Menschen (oder deutsch-x-unmarkierten Menschen). Es gibt so etwas wie eine Reproduktionslogik des Ortes, der man sich schwer entziehen kann. Nicht immer, aber doch regelmäßig, teilt man Essen oder Zigaretten mit den Menschen am Nachbartisch, schreit gemeinsam vor Freude über ein Tor der deutschen oder türkischen Fußballnationalmannschaft laut auf oder singt zusammen Lieder, die per Video eingespielt werden.
Berlin steht vor endlosen Herausforderungen, was gesellschaftlichen Zusammenhalt betrifft. Wir alle kommen immer wieder an die Punkte, wo wir wissen, das können und wollen wir nicht akzeptieren. So sehr wir uns nach Gleichgültigkeit sehnen, wir erfahren die Grenzen der Gelassenheit. Umso wichtiger sind Orte, wo man jenseits von Politik, Religion und Lebensform zusammenkommt. Doch, auch wenn Ergün’s Fischbude nicht ausgesprochen teuer ist, muss man sich das Essen dort leisten können. Darum sollte es ein gemeinsames Anliegen in Städten wie Berlin sein, Sehnsuchtsorte, die dabei unterstützen, Beziehungen zu erhalten oder aufbauen, auch finanziell zu fördern.
Sie forschen auch zu queeren Subkulturen: Welche Räume sind für diese besonders wichtig? Was macht Berlin für Subkulturen so attraktiv?
Martina Löw: Großstädte sind für Subkulturen attraktiv. Die Anonymität gibt Schutz. Großstädter*innen neigen zu einer gewissen Gleichgültigkeit, weil sie derart vielen Differenzerfahrungen ausgesetzt sind, dass sie sich wirklich nicht immer neu aufregen können. Das hat übrigens schon Georg Simmel Anfang des 20sten Jahrhundert für Berlin beschrieben. Entsprechend sind heterogene Räume für queere Kulturen attraktiv. Sie bieten eine größere Chance für unaufgeregtes Nebeneinander.
Wir haben über queere Communities in Seoul geforscht. Dort gibt es Nachbarschaften, in denen besonders viele Lesben leben, und andere, in denen sich viele Schwule ansiedeln. Dort suchen Menschen Räume, die Gemeinsamkeit bieten. Berlin ist nicht besonders auffällig in den Kiezen nach sexuellen Identitäten sortiert, aber die Stadt bietet viele Treffpunkte und Angebote für Menschen, die Heteronormativität und Geschlechterbinarität nicht akzeptieren wollen. Ansonsten suchen queere Communities, was viele Menschen suchen, nämlich Anregung, d.h. Kino, Konzerte, Lesungen, Vorträge, Theater und Oper, Rosengärten, überhaupt Grünanlagen, Cafés etc. All das hat (auch) Berlin.
Wir haben über queere Communities in Seoul geforscht. Dort gibt es Nachbarschaften, in denen besonders viele Lesben leben, und andere, in denen sich viele Schwule ansiedeln. Dort suchen Menschen Räume, die Gemeinsamkeit bieten. Berlin ist nicht besonders auffällig in den Kiezen nach sexuellen Identitäten sortiert, aber die Stadt bietet viele Treffpunkte und Angebote für Menschen, die Heteronormativität und Geschlechterbinarität nicht akzeptieren wollen. Ansonsten suchen queere Communities, was viele Menschen suchen, nämlich Anregung, d.h. Kino, Konzerte, Lesungen, Vorträge, Theater und Oper, Rosengärten, überhaupt Grünanlagen, Cafés etc. All das hat (auch) Berlin.
Zum Schluss ein Blick nach vorn: Was gibt Ihnen Hoffnung, dass Zusammenhalt auch in Zukunft gelingen kann? Und was sollten wir im Alltag dafür tun?
Martina Löw: Mir gibt Hoffnung, wenn ich etwas neu denken kann. Ich habe erst kürzlich das Buch Alles unter dem Himmel von Tingyang Zhao gelesen. Ich war selbst erstaunt, wie viel Mut mir die Lektüre gemacht hat. Und zwar nicht, weil das Buch außergewöhnlich gut ist, sondern weil ich mir die Welt plötzlich anders vorstellen konnte. Den Globus (der in der Rede über die Folgen von Globalisierung immer aufgerufen wird) stelle ich mir vor wie den Ball, der früher im Erdkundeunterricht auf dem Lehrerpult stand. Eingekerbt, nach Kontinenten aufgeteilt. Man schaut auf ihn, um Länder zu finden und Länder zu differenzieren. Das ist kein Bild für Gemeinsamkeit, sondern eines für Unterscheidung. Beim Planeten denke ich an Umweltkatastrophen. Das Ende der Bewohnbarkeit. Terraforming.
Alles unter dem Himmel ist ein starkes Bild und auch ein Raum. Unter dem Himmel sind wir nicht hierarchisiert. Wir leben auch nicht im Norden oder Süden, nicht im Osten oder Westen, sondern gemeinsam unter der unendlichen Weite. Zhao schlägt vor, dass unsere vorrangige Sorge die wechselseitige Sicherheit sein sollte. Stellen Sie sich für eine Sekunde vor, wir hätten ein weltweites Übereinkommen, dass jede*r für die Sicherheit der anderen sorgen muss, nicht für seine eigene? Wie großartig könnte dann sozialer Zusammenhalt sein! Wir sollten im Alltag mehr lesen. Das hilft.
BERLIN SCIENCE WEEK 2025 x BERLIN UNIVERSITY ALLIANCE
Gemeinsam die Grand Challenges angehen
Dieses Interview ist eines von fünf in Zusammenarbeit mit der Berlin University Alliance (BUA). Gemeinsam zeigen wir, wie Berlins Forschungsökosystem transdisziplinäre Ansätze vorantreibt und die Zukunft mitgestaltet. Auf der Berlin Science Week 2025 kannst du Forschende der Berlin University Alliance treffen, an Diskussionen teilnehmen und hautnah erfahren, wie Berlin die großen Fragen unserer Zeit angeht.
BERLIN SCIENCE WEEK 2025 x BERLIN UNIVERSITY ALLIANCE
Gemeinsam die Grand Challenges angehen
Dieses Interview ist eines von fünf in Zusammenarbeit mit der Berlin University Alliance (BUA). Gemeinsam zeigen wir, wie Berlins Forschungsökosystem transdisziplinäre Ansätze vorantreibt und die Zukunft mitgestaltet. Auf der Berlin Science Week 2025 kannst du Forschende der Berlin University Alliance treffen, an Diskussionen teilnehmen und hautnah erfahren, wie Berlin die großen Fragen unserer Zeit angeht.