Globale Gesundheit
Das Thema Gesundheit hängt nicht allein von medizinischem Fortschritt ab. Entscheidend sind auch unsere Lebensumstände: ob wir sauberes Wasser und ausgewogene Ernährung haben, in sicheren Wohn- und Arbeitsverhältnissen leben oder Zugang zu Bildung haben. Es wird schnell klar: Gesundheit ist ein globales Thema. Die Bedingungen sind weltweit wie auch innerhalb einzelner Gesellschaften ungleich verteilt – mit Folgen für alle: Krankheiten breiten sich schneller aus, chronische Leiden nehmen zu und ganze Gesundheitssysteme geraten an ihre Grenzen.
PD Dr. Stefanie Theuring von der Charité – Universitätsmedizin Berlin forscht zu diesen Fragen. Sie untersucht, wie Ungleichheiten die Gesundheit beeinflussen: von der reproduktiven Gesundheit von Frauen über die Folgen von Covid bei Kindern bis hin zu den Erfahrungen von Migrantinnen und Migranten im Gesundheitssystem. Letzteres bearbeitet sie als Forschungsthema im Rahmen der Grand Challenge „Global Health“ der Berlin University Alliance Exploration Projects. Im Gespräch mit us blickt sie Beyond Now: Welche Forschungsperspektiven braucht das Thema globale Gesundheit, damit niemand zurückgelassen wird?
PD Dr. Stefanie Theuring von der Charité – Universitätsmedizin Berlin forscht zu diesen Fragen. Sie untersucht, wie Ungleichheiten die Gesundheit beeinflussen: von der reproduktiven Gesundheit von Frauen über die Folgen von Covid bei Kindern bis hin zu den Erfahrungen von Migrantinnen und Migranten im Gesundheitssystem. Letzteres bearbeitet sie als Forschungsthema im Rahmen der Grand Challenge „Global Health“ der Berlin University Alliance Exploration Projects. Im Gespräch mit us blickt sie Beyond Now: Welche Forschungsperspektiven braucht das Thema globale Gesundheit, damit niemand zurückgelassen wird?
EIN GESPRÄCH MIT STEFANIE THEURING
Das Motto der Berlin Science Week 2025 ist Beyond Now, also über das Jetzt hinausdenken. Welche Entwicklungen beobachten Sie heute im Gesundheitssystem, die in den kommenden Jahren für Berlin und Europa eine immer größere Herausforderung sein werden?
Stefanie Theuring: Neben den explodierenden Kosten im Gesundheitssystem in einer rapiden alternden Gesellschaft denke ich hier insbesondere an die Migration, die ja eines meiner Schwerpunktthemen ist. Die globale Migration wird in den kommenden Jahren weiter zunehmen und uns vor immer neue und unterschiedliche Herausforderungen stellen. Berlin ist bereits heute ein Knotenpunkt globaler Mobilität. Daraus entstehen Chancen, etwa durch die Vielfalt an Kompetenzen und Lebensentwürfen, aber auch Schwierigkeiten, z. B. wenn Zugänge zu Versorgung ungleich verteilt bleiben, Sprachbarrieren bestehen oder Gesundheitssysteme kulturelle Unterschiede nicht berücksichtigen.
Auch im Bereich der Frauengesundheit werden weitere Herausforderungen wachsen: in der reproduktiven Selbstbestimmung, im Zugang zu Präventionsangeboten, und in den gesundheitlichen Folgen von Mobilität, Konflikt oder Klimawandel. Diese Themen betreffen zunehmend auch Europa. Wir müssen uns noch mehr anstrengen, besonders vulnerablen Gruppen, wie z.B. geflüchteten Frauen, strukturell bessere Gesundheitsangebote zu machen, die über eine Akutversorgung hinausgehen. Die Herausforderung wird also insgesamt sein, die Gesundheitssysteme von Deutschland und Europa inklusiver, resilienter und globaler zu gestalten.
‚Beyond Now‘ zu agieren, bedeutet für mich, Erfahrungen aus internationalen Kontexten frühzeitig zu integrieren, Ungleichheiten abzubauen, und Gesundheit als ein transnationales Gut und als Menschenrecht zu begreifen.
Auch im Bereich der Frauengesundheit werden weitere Herausforderungen wachsen: in der reproduktiven Selbstbestimmung, im Zugang zu Präventionsangeboten, und in den gesundheitlichen Folgen von Mobilität, Konflikt oder Klimawandel. Diese Themen betreffen zunehmend auch Europa. Wir müssen uns noch mehr anstrengen, besonders vulnerablen Gruppen, wie z.B. geflüchteten Frauen, strukturell bessere Gesundheitsangebote zu machen, die über eine Akutversorgung hinausgehen. Die Herausforderung wird also insgesamt sein, die Gesundheitssysteme von Deutschland und Europa inklusiver, resilienter und globaler zu gestalten.
‚Beyond Now‘ zu agieren, bedeutet für mich, Erfahrungen aus internationalen Kontexten frühzeitig zu integrieren, Ungleichheiten abzubauen, und Gesundheit als ein transnationales Gut und als Menschenrecht zu begreifen.
Die Berlin University Alliance spricht von großen gesellschaftlichen Herausforderungen, den Grand Challenges. Warum ist Global Health eine „Grand Challenge“? Was macht diese großen Transformationsthemen, auf die die BUA fokussiert, komplexer als andere Forschungsfragen?
Stefanie Theuring: Die „Grand Challenge“ in Global Health besteht darin, dass sie per Definition nicht an nationalen Grenzen halt macht, und darin, dass Gesundheit nie eindimensional gedacht werden kann. Wir als Wissenschaftler*innen sind hier vielmehr gefordert, biologische, soziale, kulturelle, politische, technologische Dimensionen zugleich zu berücksichtigen.
Pandemien zeigen das ebenso wie Fragen der psychischen Gesundheit, der Versorgung in alternden Gesellschaften oder in humanitären Krisen: medizinische Lösungen allein reichen nicht aus, wenn soziale Ungleichheiten oder restriktive politische Rahmenbedingungen fortbestehen und spezifische Kontexte nicht berücksichtigt werden.
Globale Gesundheit verlangt interdisziplinäre und oft auch transdisziplinäre Forschung im Austausch mit Praxisakteuren und Zivilgesellschaft. Die Komplexität liegt also nicht nur in der Größe der Herausforderung, sondern in ihrer Vielschichtigkeit. Das macht diese Themen komplexer als andere: Sie sind nicht linear lösbar, sondern erfordern das Aushalten von Widersprüchen, die Verknüpfung von Evidenz aus unterschiedlichen Quellen, die Anerkennung unterschiedlicher Epistemologien und Wissenssysteme. Gerade darin liegt aber auch die transformative Kraft. Global Health zeigt uns, dass wissenschaftliche Innovation dann wirksam wird, wenn sie Brücken zwischen Disziplinen, Sektoren und Regionen schlagen kann.
In Ihrer Forschung geht es unter anderem um reproduktive Gesundheit und HIV. Warum treffen gesundheitliche Krisen Frauen und marginalisierte Gruppen oft besonders stark? Wieso ist es wichtig, Fragen der Diversität beim Thema Gesundheit mitzudenken?
Stefanie Theuring: Genauso wie Gesundheit nicht gleich verteilt ist, wirken gesundheitliche Krisen selten neutral. Sie treffen Frauen und marginalisierte Gruppen besonders stark, weil strukturelle Ungleichheiten in Krisenzeiten, wie z. B. während der COVID-19- Pandemie, sichtbar und verschärft werden.
Wer schon im Alltag schlechteren Zugang zu Gesundheitsversorgung, ökonomischer Sicherheit oder politischer Teilhabe hat, ist im Krisenfall verletzlicher. Ein gutes Beispiel ist die reproduktive Gesundheit: In vielen Kontexten wird sie im Krisenmanagement nachrangig behandelt, mit gravierenden Folgen für Schwangerschaftsbetreuung, Zugang zu Verhütung oder die Versorgung bei Komplikationen. Deshalb ist es so wichtig, Diversität mitzudenken: Gesundheitsinterventionen, die nicht berücksichtigen, wie unterschiedlich Menschen und ihre Bedürfnisse in Abhängigkeit von Geschlecht, Alter, Herkunft, sozialem Status oder rechtlichem Aufenthaltsstatus etc. sein können, verstärken bestehende Ungleichheiten.
Diversität bedeutet auch nicht nur Gerechtigkeit, sondern auch Effektivität: Gesundheitssysteme, die die Vielfalt ihrer Patient*innen ernst nehmen, sind krisenfester und letztlich nachhaltiger. Diversität ist also keine ‚Bonusfrage‘, sondern eine Voraussetzung für wirksame Gesundheitssysteme, und zwar in Berlin genauso wie in globalen Kontexten.
Wer schon im Alltag schlechteren Zugang zu Gesundheitsversorgung, ökonomischer Sicherheit oder politischer Teilhabe hat, ist im Krisenfall verletzlicher. Ein gutes Beispiel ist die reproduktive Gesundheit: In vielen Kontexten wird sie im Krisenmanagement nachrangig behandelt, mit gravierenden Folgen für Schwangerschaftsbetreuung, Zugang zu Verhütung oder die Versorgung bei Komplikationen. Deshalb ist es so wichtig, Diversität mitzudenken: Gesundheitsinterventionen, die nicht berücksichtigen, wie unterschiedlich Menschen und ihre Bedürfnisse in Abhängigkeit von Geschlecht, Alter, Herkunft, sozialem Status oder rechtlichem Aufenthaltsstatus etc. sein können, verstärken bestehende Ungleichheiten.
Diversität bedeutet auch nicht nur Gerechtigkeit, sondern auch Effektivität: Gesundheitssysteme, die die Vielfalt ihrer Patient*innen ernst nehmen, sind krisenfester und letztlich nachhaltiger. Diversität ist also keine ‚Bonusfrage‘, sondern eine Voraussetzung für wirksame Gesundheitssysteme, und zwar in Berlin genauso wie in globalen Kontexten.
Auf globaler Ebene zeigt sich Ungleichheit besonders stark zwischen dem globalen Norden und Süden. Welche Unterschiede sehen Sie dort besonders deutlich?
Stefanie Theuring: Besonders sichtbar sind für mich Unterschiede im Zugang zu medizinischer Versorgung, Infrastruktur und Innovation. Während z. B. in Europa spezialisierte Versorgung, moderne Technologien und stabile Versicherungssysteme selbstverständlich sind, fehlt es im sogenannten globalen Süden häufig an grundlegender Primärversorgung, Medikamenten oder geschultem Personal.
Auch die Forschungsinvestitionen sind ungleich verteilt, und nicht alle Regionen profitieren von dem Fortschritt, der aus Forschung resultieren könnte. Ich möchte das an einem Beispiel aus der HIV-Forschung verdeutlichen: Mit neuen langwirksamen Medikamenten wie Lenacapavir, welches nur alle sechs Monate als Depotspritze zur HIV-Prävention verabreicht werden muss und damit einer Art Impfung schon recht nahekommt, eröffnen sich theoretisch enorme Chancen, z. B. für die Prävention der Mutter-Kind-Übertragung von HIV. Doch für Frauen im globalen Süden wird dieses Medikament auf absehbare Zeit kaum verfügbar sein.
Zudem besteht ein strukturelles Machtgefälle: Wer bestimmt, welche Gesundheitsprobleme Priorität erhalten, welche Studien finanziert oder welche Medikamente zugelassen werden? Meist sind es Akteure im Norden, die dabei die Lebensrealitäten des Südens nur unzureichend berücksichtigen. Man sieht es derzeit an Kürzungen in der internationalen Zusammenarbeit: Wenn Programme wie die von USAID wegbrechen, steigen die Todesfälle durch HIV in Afrika sofort. Die Folge ist eine doppelte Ungleichheit: ungleicher Zugang zu Versorgung und ungleiche Teilhabe an der Gestaltung der globalen Gesundheitsagenda.
Wo erleben Sie ähnliche Muster auch in Berlin?
Stefanie Theuring: Berlin ist wie ein Mikrokosmos globaler Muster: Fortschritt existiert, aber der Zugang dazu ist ungleich verteilt. Mit anderen Worten, die Muster globaler Ungleichheit spiegeln sich wider, wenn auch in anderer Dimension. Aber auch hier entscheidet die soziale und rechtliche Stellung oft darüber, wer Zugang zu Gesundheitsversorgung hat und wer nicht. Menschen ohne Papiere, mit unsicherem Aufenthaltsstatus oder prekären Beschäftigungsverhältnissen suchen häufig viel zu spät ärztliche Hilfe, weil sie Kosten oder rechtliche Konsequenzen fürchten.
Auch innerhalb der regulären Versorgung zeigen sich Unterschiede: Sprachbarrieren, mangelnde kulturelle Sensibilität und fehlende Diversität im Gesundheitspersonal führen dazu, dass bestimmte Gruppen schlechter versorgt werden. So sind z. B. Migrantinnen häufiger von Unterversorgung in Schwangerschaftsvorsorge betroffen. Zudem erleben wir in Berlin eine wachsende soziale Spaltung: Menschen mit höherem Einkommen und Bildung profitieren stärker von Prävention, neuen Therapien oder digitaler Gesundheitsversorgung. Andere bleiben von diesen Fortschritten ausgeschlossen, sei es aus finanziellen Gründen, mangelnder Information oder strukturellen Barrieren.
Kurz gesagt: wer in einer Großstadt wie Berlin nicht zur sichtbaren Mehrheit gehört, läuft Gefahr, von Gesundheitssystem und Forschung ebenso ausgeschlossen zu bleiben wie viele Menschen im globalen Süden. Die Aufgabe der Politik sollte es auch hier bei uns sein, solche Menschen sichtbar zu machen.
Auch innerhalb der regulären Versorgung zeigen sich Unterschiede: Sprachbarrieren, mangelnde kulturelle Sensibilität und fehlende Diversität im Gesundheitspersonal führen dazu, dass bestimmte Gruppen schlechter versorgt werden. So sind z. B. Migrantinnen häufiger von Unterversorgung in Schwangerschaftsvorsorge betroffen. Zudem erleben wir in Berlin eine wachsende soziale Spaltung: Menschen mit höherem Einkommen und Bildung profitieren stärker von Prävention, neuen Therapien oder digitaler Gesundheitsversorgung. Andere bleiben von diesen Fortschritten ausgeschlossen, sei es aus finanziellen Gründen, mangelnder Information oder strukturellen Barrieren.
Kurz gesagt: wer in einer Großstadt wie Berlin nicht zur sichtbaren Mehrheit gehört, läuft Gefahr, von Gesundheitssystem und Forschung ebenso ausgeschlossen zu bleiben wie viele Menschen im globalen Süden. Die Aufgabe der Politik sollte es auch hier bei uns sein, solche Menschen sichtbar zu machen.
Wenn Sie an das Jahr 2035 denken: Welche Fortschritte im Bereich der globalen Gesundheit wären entscheidend, um die heutigen Ungleichheiten zu überwinden? Und was gibt Ihnen Hoffnung, dass wir sie erreichen können?
Stefanie Theuring: Die Fortschritte, die wir zur Überwindung der Ungleichheiten in der globalen Gesundheit brauchen, hängen für mich vor allem mit der generellen Überwindung des globalen Machtgefälles zusammen. Wir brauchen einen gerechteren Zugang zu Gesundheitsversorgung und medizinischem Fortschritt, ob Impfstoffe, Therapien oder neue Technologien. Es darf nicht mehr vom Geburtsort abhängen, ob ein Medikament oder eine Technologie verfügbar und bezahlbar ist.
Zweitens: wir brauchen starke Gesundheitssysteme im globalen Süden, die nicht nur von externen Programmen abhängen, sondern langfristig selbstbestimmt funktionieren. Dabei brauchen wir auch neue Formen der globalen Zusammenarbeit, die Expertise aus dem „Süden“ ebenso ernst nehmen wie die aus dem „Norden“.
Die weltpolitische Lage gibt derzeit nicht viel Anlass zu Hoffnung. Aber dennoch können wir kleine Schritte in die richtige Richtung sehen. Immer mehr junge Wissenschaftler*innen und Aktivist*innen fordern gerechtere Strukturen in der globalen Gesundheitspolitik. Die COVID-19-Pandemie hat bei allen Rückschlägen gezeigt, dass internationale Solidarität möglich ist, etwa beim schnellen Teilen von Daten und Wissen. Und auch in Berlin wächst das Bewusstsein, dass Diversität und globale Perspektiven Voraussetzung für gerechte und wirksame Gesundheit sind.
Ich glaube, dass wir bis 2035 Fortschritte erzielen können, wenn wir heute mutig genug sind, Strukturen zu verändern.
BERLIN SCIENCE WEEK 2025 x BERLIN UNIVERSITY ALLIANCE
Gemeinsam die Grand Challenges angehen
Dieses Interview ist eines von fünf in Zusammenarbeit mit der Berlin University Alliance (BUA). Gemeinsam zeigen wir, wie Berlins Forschungsökosystem transdisziplinäre Ansätze vorantreibt und die Zukunft mitgestaltet. Auf der Berlin Science Week 2025 kannst du Forschende der Berlin University Alliance treffen, an Diskussionen teilnehmen und hautnah erfahren, wie Berlin die großen Fragen unserer Zeit angeht.
BERLIN SCIENCE WEEK 2025 x BERLIN UNIVERSITY ALLIANCE
Gemeinsam die Grand Challenges angehen
Dieses Interview ist eines von fünf in Zusammenarbeit mit der Berlin University Alliance (BUA). Gemeinsam zeigen wir, wie Berlins Forschungsökosystem transdisziplinäre Ansätze vorantreibt und die Zukunft mitgestaltet. Auf der Berlin Science Week 2025 kannst du Forschende der Berlin University Alliance treffen, an Diskussionen teilnehmen und hautnah erfahren, wie Berlin die großen Fragen unserer Zeit angeht.