Die Gesellschaft tickt wie das Gehirn

Viola Priesemann erforscht, wie unser Gehirn Informationen verarbeitet. Besonders interessiert sie, wie das Gehirn Fehler erkennt und korrigiert, um aus den kleinsten Irrtümern zu lernen. Während der Corona-Pandemie wurde Priesemann jedoch weit über ihr Fachgebiet hinaus als Expertin für die Modellierung komplexer Systeme bekannt. 

Der Grund: Priesemann und ihr Team entdeckten, dass lebende Netzwerke Informationen ähnlich verarbeiten, unabhängig davon ob es sich um 80 Milliarden Neuronen oder 8 Milliarden Menschen handelt. Mit mathematischen Methoden will sie die zugrundeliegenden physikalischen Prinzipien von neuronalen oder sozialen Netzen entschlüsseln und eine allgemeine Theorie lebender, lernender Netzwerke entwickeln. Ihre Modelle reduzieren die komplexe Wirklichkeit auf das Wesentliche. „Modelle zwingen uns zur Klarheit“, sagt Viola Priesemann in einem Interview. Sie fördern auch die Klarheit in der Bewertung möglicher Konsequenzen. Denn die Fragen, die mit ihrer Forschung und ihrem erklärten Ziel zusammenhängen, sind von grundlegender philosophischer Bedeutung und haben eine gesellschaftliche Relevanz, deren Tragweite wir nur erahnen können. Diskurse, die wir als Gesellschaft führen müssen, etwa bei der Entwicklung der Künstlichen Intelligenz, der Bekämpfung von Pandemien und „Fake News“, oder der Stärkung des sozialen Zusammenhalts. Fragen, die man nicht unbedingt mit den Arbeiten einer Physikerin verbindet und daher umso mehr überraschen. 

Neben ihrer Forschung geht es im Gespräch mit Peter-André Alt auch um die Frage, wie öffentliche Diskurse zu wissenschaftlichen Themen geführt werden sollten. Zudem sprechen sie über den langen und steinigen Weg zur Gleichstellung und Diversität im deutschen Wissenschaftssystem.